Abgrenzen

Ja zum Nein!
Erinnerungen
Es war einer dieser langweiligen Schultage, an denen die Zeit im Schneckentempo voranschritt. Monoton erläuterte der Lehrer Formeln, die zäh durch den Raum waberten. Einige Jungen vertrieben ihre Langeweile mit einer stillen, aber wilden Schlacht aus Papierkügelchen. Die Kügelchen flogen durch die Luft, trafen die Tischkanten, prallten ab und landeten auf den Köpfen der anderen Kinder. Ein Gekicher.
Ich war müde und hing meinen Gedanken nach. Mein Banknachbar, einer der großen Ansager in der Klasse, stieß mich grob mit dem Ellbogen an und flüsterte: "Ey, heb' mal das Kügelchen auf!" Seine Augen funkelten. Ich war damals sehr angepasst. „Nein“ sagen? Niemals! Also beugte ich mich widerwillig hinunter und hob das Papierkügelchen auf. Genau in diesem Moment rief der Lehrer mit donnernder Stimme. "Aline! Nach dem Unterricht bleibst du hier und säuberst den Raum. Fegen, wischen, bohnern – alles!"
Die Klasse brach in schadenfrohes Gelächter aus. Mein Banknachbar grinste breit. Heiser verteidigte ich mich: "Aber ich habe doch gar nicht mitgemacht!" Keine Chance, Pech gehabt, wieder als Pfeife geendet! Niemand half mir, als ich mich an die Arbeit machte. Das Gefühl der Ausgrenzung machte sich breit, und meine Unsicherheit wuchs mit jedem Wisch des Schrubbers.
Erst Jahre später hatte ich verschiedene Reflexionsmöglichkeiten, die mir mein und das Verhalten der Anderen klärte.
Erfahrungen
Vor einigen Jahren arbeitete ich mit einer Führungskraft zusammen, die u.a. für den Personaleinsatz in einer Bildungseinrichtung verantwortlich war. Sie klagte im Coaching über ständiges Genörgel an ihrer Dienstplangestaltung. Außerdem wurde sie durch einzelne Kolleginnen, mit unzähligen neuen Ideen überflutet. Ihr Drang, alles und jeden zufriedenzustellen, machte sie zur sprichwörtlich "eierlegenden Wollmilchsau". Dieses Bemühen, führte zu Chaos und Stress.
Das deutlichste Zeichen für das Fehlen von Grenzen zeigte sich in ihrem Büro. Kolleginnen betraten ohne zu klopfen den Raum, liefen bis hinter ihren Schreibtisch, schauten auf ihren Bildschirm und gestikulierten wild. Die Lautstärke und die ständigen Unterbrechungen machten konzentriertes Arbeiten beinahe unmöglich.
Wenn ein Mensch nicht gelernt hat, mit derlei grenzüberschreitende Vorfällen umzugehen, kann dies Auswirkungen auf seine Persönlichkeit haben. Einige Beispiele:
- Ständiges unsicher sein, kann zu Konzentrationsschwierigkeiten und Leistungsabfall führen.
- Ein erhöhtes Harmoniestreben oder aggressive Verhaltensweisen könnten folgen.
- Wenn Bedürfnisse und Gefühle nicht ernst genommen werden, ist das Selbstwertgefühl erheblich beeinträchtigt.
- Durch regelmäßige Grenzüberschreitungen erhöht sich das Angst,- und Stressniveau. Körperliche Symptome wie Kopf,- Rücken,- oder Bauchschmerzen und psychische Gesundheitsprobleme, wie Depressionen oder Angststörungen können entstehen.
- Der gesamte Beziehungsaufbau im Sozialgefüge kann Schwierigkeiten bereiten.
- Das Gefühl nicht sicher und nicht respektiert zu sein bringt Vertrauensverlust.
- Vertrauen zu entwickeln wird zur Lebensaufgabe.
Ich sprach mit meiner Klientin darüber, was sie denn hinter ihren Schwierigkeiten vermutete. Sie sah vor allem bei sich strukturelle Probleme, Unzulänglichkeiten und Fehler. Sie sei vielleicht noch nicht offen genug für alle und müsste sich nur mehr anstrengen. Offenbar hatte sie früh gelernt, dass es nicht um Ihre Bedürfnisse geht und hatte das Thema Abgrenzung gar nicht auf dem Schirm. Es war wichtig, die Auslöser für ihr Verhalten zu identifizieren: Was führte dazu, dass sie sich wie eine "Erfüllungsgehilfin" fühlte? Da hatten wir ein Lebensthema erwischt. Durch gezielte Reflexion fanden wir heraus, dass diese Verhaltensweisen in früheren Lebenssituationen hilfreich waren. Heute aber nicht mehr! Sie erkannte, dass es jetzt neue Möglichkeiten und Strategien gibt, mit denen sie ihre Aufgaben effizienter und stressfreier bewältigen kann.
In unserer Zusammenarbeit entwickelte sie Vorgehensweisen, klare und respektvolle Grenzen zu setzen. Ein entscheidender Schritt war das vorher unsagbare "Nein" über die Lippen zu bekommen. Es souverän zu formulieren. Sie identifizierte auch ihre physische Grenzen und übte sich z. B. durch die Positionierung des Körpers klar abzugrenzen. Wichtige Schritte waren, Grenzen körperlich zu spüren und sich selbst die Erlaubnis zu geben, nicht auf jede Bitte sofort einzugehen.
Natürlich spielte die Betrachtung ihrer Rolle, ihres Auftrages und des Teams eine wesentliche Rolle. Die eigene Rolle mit Ihren Prioritäten zu wahren, war befreiend und schuf den Raum für produktives Arbeiten. An einem Teamtag begann sie das Team zu sensibilisieren. Sie sammelte mit dem Team Beispiele zu eigene Erfahrungen von Grenzüberschreitungen und erarbeitete mit ihnen die Bedeutung von respektvollen Arbeitsbedingungen. Durch einfache Maßnahmen wie das Anbringen eines "Bitte nicht stören"-Schildes, mehr Nachfragen untereinander und das Festlegen von festen Sprechzeiten konnten sie ihr Verhalten und die Büroatmosphäre deutlich verbessern.
Sie stärkte ihre Rolle als Führungskraft, gewann an Professionalität, Respekt und fühlte sich souveräner. Vielleicht ist es noch interessant, dass dieser Prozess ca. 1,5 Jahre dauerte. Im Grunde üben und lernen wir an diesen Themen lebenslang, um mental vital zu sein.
Sie wollen lernen sich abzugrenzen, angemessen zu reagieren und NEIN zu sagen?
Folgende kleine Experimente können Sie für sich ausprobieren:
Übung 1: Reflexion über persönliche Grenzen
Lernen Sie aus vergangenen Erfahrungen und entwickeln Sie Strategien, um Ihre persönlichen Grenzen besser zu schützen. Nehmen Sie sich Zeit, um über Situationen nachzudenken, in denen Ihre Grenzen in der Vergangenheit überschritten wurden. Wie haben Sie sich gefühlt, und was hätten Sie anders machen können? Probieren Sie andere, neue Verhaltensweisen aus. Seien Sie nicht so streng mit sich, wenn es nicht auf Anhieb klappt.
Übung 2: Körperliche Wahrnehmung
Entwickeln Sie ein besseres Bewusstsein für die körperlichen Reaktionen, die auf überschrittene Grenzen hinweisen, um schneller darauf reagieren zu können. Setzen Sie sich ruhig hin und konzentrieren Sie sich auf Ihren Körper. Achten Sie auf körperliche Signale, die Ihnen zeigen, wenn Ihre Grenzen überschritten werden, wie z.B. Anspannung in den Schultern oder ein flaues Gefühl im Magen.
Übung 3: "Nein"-Training
Entwickeln Sie die Fähigkeit, Ihre Grenzen zu wahren und gleichzeitig respektvoll und professionell zu bleiben. Üben Sie in einer sicheren Umgebung, „Nein“ zu sagen. Stellen Sie sich Situationen vor, in denen Sie sich überfordert fühlen könnten, und formulieren Sie eine höfliche, aber bestimmte Antwort.
Übung 4: Visualisierung von Grenzen
Entwickeln Sie ein inneres Bild Ihrer persönlichen Grenzen, das Ihnen hilft, diese in der Realität besser zu wahren. Stellen Sie sich vor, Sie sind von einer schützenden Blase umgeben, die Ihre persönlichen Grenzen repräsentiert. Visualisieren Sie, wie diese Blase stärkere Wände bekommt, wenn Sie sich in herausfordernden Situationen befinden.
Übung 5: Prioritäten schützen
Erkennen Sie, was wirklich wichtig ist, und setzen klare Grenzen, um Ihre Prioritäten zu schützen. Erstellen Sie eine Liste der Aufgaben und Verpflichtungen, die Sie derzeit haben. Ordnen Sie sie nach Priorität und identifizieren Sie, welche Aufgaben am wichtigsten sind.
Übung 6: Energie- und Zeitmanagement
Verstehen Sie, wie Sie Ihre Zeit und Energie derzeit nutzen, und setzen Sie Grenzen für Aktivitäten, die Sie erschöpfen, um mehr Raum für Energie spendende Aktivitäten zu schaffen. Erstellen Sie ein Tagebuch, in dem Sie Ihre täglichen Aktivitäten und deren Dauer aufzeichnen. Markieren Sie die Aktivitäten, die Ihnen Energie geben, und jene, die Ihnen Energie rauben.
Übung 7: Werte-Reflexion
Verstehen Sie, wie Ihre persönlichen Werte Ihre Grenzen beeinflussen und wo Sie möglicherweise Anpassungen vornehmen müssen. Machen Sie eine Liste Ihrer wichtigsten persönlichen Werte. Überlegen Sie, wie Ihre Grenzen mit diesen Werten im Einklang stehen und wo es möglicherweise Diskrepanzen gibt.
Übung 8: Rollenspiele für Konfliktsituationen
Entwickeln Sie Vertrauen in Ihre Fähigkeit, Ihre Grenzen in realen Konfliktsituationen zu kommunizieren und zu verteidigen. Arbeiten Sie mit einem Freund oder Kollegen zusammen und spielen Sie verschiedene Szenarien durch, in denen Ihre Grenzen herausgefordert werden. Üben Sie, klare und respektvolle Antworten zu geben.