Blinde Flecken
Eine Erinnerung
„Jetzt reicht es, Frau Kramer. Gehen Sie zu Ihrem Hausarzt und lassen sich krankschreiben.“ empfahl mir meine damalige Supervisorin. Alle 4 Wochen war ich bei ihr und reflektierte meine Arbeit als Führungskraft. Seit Monaten hatte sie eine Abwärtsspirale beobachtet. Leider war mein Stundenanteil für diese Position im Gegensatz zu den Anforderungen sehr gering und auch die weiteren Rahmenbedingungen waren miserabel. Ich dagegen arbeitete engagiert täglich bis spät abends, brannte für meine Aufgabe, mein Team und meine Klientel. Nun war die Flamme erloschen, meine Kraft und Ideen verschwunden. Ich war im Burnout gelandet. Erst Monate später konnte ich meine „blinden Flecke“ reflektieren, mein Unvermögen mich abzugrenzen, in wichtigen Momenten meine professionelle Sicht zu teilen und souverän aufzutreten. Vor allem die komplexen schwerwiegenden Problematiken meiner Klientel beschäftigten mich 24/7, nahmen mich emotional ein, ließen mich unsicher kommunizieren und verhinderten professionelle Handlungsfähigkeit. Das alles hatte ich so nicht auf dem Schirm und war angewiesen auf die konstruktiven Feedbacks der Supervisorin und meiner Kolleg:innen.
Eine Erfahrung
Ein junger Leiter kam zu mir ins Coaching. Er hatte vor einiger Zeit die Leitung übernommen, brachte viele Ideen und ein hohes Engagement mit und erzählte von 3 Kolleginnen, die nun das Team wechseln wollten. Voller Entsetzen erzählte er, dass er eigentlich immer ein gutes Gefühl hatte, das Team fördern wollte und nun verstehe er gar nicht, was passiert sei. Menschen haben oft eine verzerrte Wahrnehmung von sich selbst. Sie konzentrieren sich auf ihre Schwächen und übersehen ihre Stärken, oder umgekehrt.
Deshalb nutzte ich für die Reflexionsarbeit unter anderem die Methode des Johari Fensters. 1955 entwickelten die US-Sozialpsychologen Joseph Luft und Harry Ingham dieses Modell. Es zeigt bewusste und unterbewusste Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale und demonstriert die Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Vor allem der so genannte "blinde Fleck" im Selbstbild eines Menschen wird illustriert.
Aber was bedeutet der „blinde Fleck“? Es gibt in unserem Auge einen Punkt, an dem der Sehnerv auf die Netzhaut trifft. Hier gibt es keine lichtempfindlichen, bildempfangenden Rezeptoren. Dementsprechend kann das Bild nicht ans Gehirn weitergeleitet werden. Wir sind an diesem Punkt wirklich blind.
Solche „blinden Flecken“ haben auch wir in unserer Selbstwahrnehmung. Bestimmte Bereiche unseres Selbst sehen wir nicht, wollen oder können diese nicht wahrnehmen. Oft sind das Schutzmechanismen unserer Psyche und manchmal hat es etwas mit mangelndem Selbstvertrauen zu tun.
Der Leiter bekam die Aufgabe zum nächsten Mal das Johari Experiment in seiner Einrichtung durchzuführen. Das Ergebnis analysierten wir in der nächsten Sitzung.
Bei der Methode werde vier Bereiche in einem Quadrat betrachtet.
1.Öffentlich - was ist „mir bekannt und anderen bekannt“?
- Es zeigt alles, was preisgegeben wird, was also der Person selbst und anderen bekannt ist.
- Das sind die Anteile der Persönlichkeit, die nach außen sichtbar gemacht werden und von anderen
wahrgenommen werden. - Neben äußeren Merkmalen gehören auch innere Eigenschaften dazu z.B. Ehrgeiz oder Ängstlichkeit, wenn diese außen erkennbar sind.
- Im Vergleich mit den anderen, ist dieser Bereich meist eher klein.
Ergebnis des Experiments: Der Leiter hatte dem Team einiges abgefordert. Es gab neue Rahmenbedingungen. Er war sehr ehrgeizig in seiner neuen Rolle.
2.Geheim - was ist „mir bekannt und anderen unbekannt“?
- Hierzu gehören alle Anteile, die die Peron weiß oder kennt, die sie aber nicht preisgegeben will, anderen nicht zugänglich macht und aktiv vor ihnen verbirgt.
- Heimliche Wünsche, Empfindlichkeiten oder Schambesetztes.
Ergebnis des Experiments: Der Leiter hatte Angst entlarvt zu werden. Er beschrieb seine Unsicherheit, sein Bedürfnis nach Zugehörigkeit, das andauernde schlechte Gewissen.
3.Blinder Fleck– was ist „mir unbekannt und anderen bekannt“?
- Es zeigt alles Unbewusste. Es wird ausgesendet von der Person und von anderen wahrgenommen.
- Eigenarten, Verhaltensweisen, Anteile und Charakteristika, die der Person nicht bewusst sind, aber von anderen erkannt werden.
Ergebnis des Experiments: Folgende Wahrnehmungen des Teams reflektierte der Leiter im Coaching:
- Er überfällt die anderen mit seinen Ideen und offensichtlich fühlt sich das Team unter Druck gesetzt.
- Bei Vorfällen agierte er eher auf der Beziehungsebene. Dadurch wird er vermutlich nicht ernst genommen und möglicherweise nimmt er die anderen auch nicht ernst.
- Er kommunizierte immer auf die gleiche Art und Weise. Verschiedene Menschen und Situationen erfordern allerdings unterschiedliche Kommunikationsstile.
- Informationen vergaß er in der Hektik weiterzugeben.
- Er konzentrierte sich auf Teammitglieder, deren Leistungen auffielen oder die sich lautstark meldeten. Stillere übersah er.
- Aufgaben gab er immer an die gleichen Kolleg:innen, so konnten die anderen ihre Fähigkeiten nicht zeigen und sich nicht entwickeln.
- Eine Konkurrenzsituation mit einem anderen Mitarbeiter hatte er nicht wahrgenommen. Sie brachte aber Unruhe und musste geklärt werden.
4.Unbekannt - was ist „mir unbekannt und anderen unbekannt“?
- Es zeigt verborgenes Terrain, also alles, was weder der Person noch anderen bekannt ist.
- Das können unentdeckte Potenziale, unbewusste Erinnerungen, Verletzungen oder verdrängte Erfahrungen sein.
- Dieser Bereich zeigt sich in Emotionen, in Kommunikation und kann vielleicht den Umgang mit anderen Menschen erschweren.
- Um das Unbekannte für sich greifbar zu machen, könnten eine Psychotherapie oder Gespräche mit entsprechend geschulten Fachleuten hilfreich sein.
Ergebnis des Experiments: In der Arbeit gingen wir auf seine Bedürfnisse, Überzeugungen und Lebenskonflikte ein. Er konnte für sich reflektieren, was er unter Loyalität versteht und warum dieser Wert für ihn solch eine immense Bedeutung hatte. Wir bargen kleine Schätze. Durch diese Arbeit war er am Ende erleichtert und fühlte sich mental vital.
Das Beispiel zeigt, dass “blinde Flecken” in sehr verschiedenen Bereichen auftreten können. Sich der „blinden Flecke“ bewusstwerden und sich mit den Erkenntnissen auseinanderzusetzen, ist schwere Arbeit.
Doch ich sage immer: „Egal wohin Sie gehen, Sie nehmen sich selbst mit. Da ist es nur gut und wichtig, genau bei sich anzufangen.“
Ein Experiment - das JOHARI Fenster
Ziele des Johari - Modells
- Förderung der Selbstwahrnehmung. Eigenen Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale werden durch den Abgleich des Selbst – und Fremdbildes bewusster.
- Verbesserung der Kommunikation. Durch das transparente Aufzeigen von Unterschieden und auch gleichen Wahrnehmungen, kann die zwischenmenschliche Kommunikation effektiver, klarer und freundlicher verlaufen.
- Reduzierung des „blinden Fleckes“. Durch das kennenlernen des blinden Fleckes und die Auseinandersetzung damit, wird das Feld des „blinden Fleckes“ kleiner.
- Stärkung des Teams/ der Gruppe. Durch die Arbeit mit dem Johari Fenster kann das gegenseitige Verständnis gefördert und so die Zusammenarbeit verbessert werden. Der gemeinsame Handlungsspielraum kann weiter gestaltet werden.
- Persönliche Entwicklung. Durch das Feedback anderer Menschen und die Reflexionsarbeit kann die einzelne Person gezielt an Schwächen arbeiten und Stärken weiterentwickeln.
Während der Arbeit sollte das linke obere Feld immer größer, die anderen drei werden kleiner werden.
So läuft das Experiment ab
Der Ablauf des Johari-Fenster-Experiments ist relativ einfach und kann in verschiedenen Kontexten, wie in Teams oder für persönliche Entwicklung, durchgeführt werden.
- Auswahl der Adjektive: Eine Liste von Adjektiven, die verschiedene Persönlichkeitsmerkmale beschreiben, wird bereitgestellt.
- Selbstbewertung: Jede Person wählt aus der Liste die Adjektive aus, die sie selbst am besten beschreiben. Empfohlen sind 5-6 Adjektive.
- Fremdbewertung: Andere Personen (z.B. Teammitglieder, Freunde) wählen ebenfalls (5-6) Adjektive aus der Liste aus, die sie für die betreffende Person als zutreffend empfinden.
- Reflexion: Zusätzlich können noch die Fragen (siehe unten) beantwortet werden. Das ist aber kein Muss.
- Vergleich der Bewertungen: Die ausgewählten Adjektive werden in das Johari-Fenster eingetragen, das in vier Quadranten unterteilt ist:
Öffentliche Person: Adjektive, die sowohl von der Person selbst als auch von anderen ausgewählt wurden.
Blinder Fleck: Adjektive, die nur von anderen ausgewählt wurden.
Verborgene Person: Adjektive, die nur von der Person selbst ausgewählt wurden.
Unbekanntes: Adjektive, die weder von der Person selbst noch von anderen ausgewählt wurden. - Diskussion und Reflexion: Die Ergebnisse werden besprochen, um ein besseres Verständnis der Selbst- und Fremdwahrnehmung zu entwickeln. Dies kann zu wertvollen Einsichten und zur persönlichen Weiterentwicklung beitragen.
- Feedback: Wenn Sie die Fragebögen unter 4. Nicht bearbeiten, könnten Sie im Team über folgende Fragen nachdenken. Wovon profitieren wir als Team von dir? Was schätze ich an dir unabhängig von deiner Leistung? Welche gute Erfahrung verbinde ich mit dir?
- Anpassung: Basierend auf den Erkenntnissen können Personen gezielt an ihren blinden Flecken arbeiten und offener über ihre verborgenen Eigenschaften sprechen.
JOHARI – Experiment Selbstbild
Wähle aus der Liste (ganz unten) fünf bis sechs Adjektive aus, die deine Persönlichkeit beschreiben.
Zusatzfragen -Wenn ich über mich nachdenke:
- Was zeichnet mich besonders aus?
- Wie unterscheide ich mich von allen anderen Menschen, die ich kenne?
- Was sind meine größten Stärken?
- Was sind meine größten Schwächen?
- Welche Stärke ist mir persönlich am wenigsten bewusst?
- Bei welcher Problemlösung könnte ich am besten mitwirken?
- Womit sollte ich mich noch beschäftigen?
- Was sollte ich noch lernen?
- Was sollte ich beruflich auf keinen Fall tun?
JOHARI – Experiment Fremdbild
Bitte um Feedback! (ans Team/Familie/Freunde etc)
Wähle bitte aus der Liste (ganz unten) fünf bis sechs Adjektive aus, welche mich beschreiben.
Zusatzfragen - Bitte um Feedback! Wenn du an mich denkst:
- Was zeichnet mich besonders aus?
- Wie unterscheide ich mich von allen anderen Menschen, die du kennst?
- Was sind meine größten Stärken?
- Was sind meine größten Schwächen?
- Welche Stärke ist mir persönlich am wenigsten bewusst?
- Bei welcher Problemlösung würdest du sofort an mich denken?
- Womit sollte ich mich deiner Meinung nach noch beschäftigen?
- Was sollte ich noch lernen?
- Was sollte ich beruflich auf keinen Fall tun?
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Probieren Sie es aus. Ich freue mich auf Ihre Gedanken und bin auf Ihr Feedback gespannt.
Ihre
Aline Kramer