Gedanken kramen

Übergänge und Veränderungen

Mit dem Herzen dabei

Erinnerung

Watsch! Ein nasser Lappen flog auf den grauen Linoleumfußboden. Ich erschrak. „Die Mauer is uff!“ verkündete die Reinigungskraft. Es war noch dunkel draußen, 4 Uhr früh am 10. November 1989. Ich lag im Krankenhaus und hatte vor wenigen Tagen mein zweites Kind zur Welt gebracht. So erfuhr ich von der Grenzöffnung, die der größte Umbruch in meinem Leben werden sollte.

Übergänge gehören zum Leben: vom Vormittag, in den Nachmittag, in die Nacht, Geburtstag, Kitabesuch, Jahreswechsel, erster Schultag, Jahreszeiten, erwachsen werden, Berufsabschluss, Partnerschaften, Schwangerschaft, Familiengründung, Umzug, Stellenwechsel, Pensionierung, Sterben… die Liste ist lang. Oft nutzen wir Bilder für solche Ereignisse: über eine Brücke gehen, durch ein Tor laufen, eine Grenze überschreiten und einige mehr. Viele Übergänge werden durch Rituale begleitet. Diese bringen Klarheit und erleichtern die Orientierung.

Für den Übergang von Ost nach West gab es kein Ritual. Niemand wusste, wie das geht. Ich fühlte mich orientierungslos. Es glich einem Abenteuer: ohne meinen Wohnort oder meine Zeitzone zu verlassen, plötzlich in einem neuen Land zu leben. Die Veränderungen waren unüberschaubar. Unsere Regeln galten nicht mehr, es gab fremde Gesetze, umgewandelte Versicherungen, anderes Geld, übers Wochenende ausgetauschte moderne Waren in den Schaufenstern, in der Kita galt nicht mehr unser Bildungs- und Erziehungsplan, jede sollte so arbeiten, wie sie wollte, bestimmte Berufe waren nicht mehr anerkannt, Betriebe und Einrichtungen wurden geschlossen, dafür sehr viele Videotheken und Restaurants eröffnet… Wir taumelten von Situation zu Situation. Dieses große „Unbekannte“ löste auch existenzielle Ängste aus. Für uns als junge Familie war die Gefühlslage in erster Linie ambivalent und überfordernd. Einerseits waren wir aufgeregt, was vielleicht auf einmal alles möglich sein sollte. Andererseits waren wir besorgt, was vielleicht alles nicht mehr möglich sein würde. Wir brauchten Mut und Flexibilität.

Übergänge müssen gestaltet werden. Arnold van Gennep, ein französischer Ethnologe, forschte vor mehr als 100 Jahren zu Übergangsriten. Er untersuchte wie Menschen Übergänge erleben und beschrieb drei Phasen, die es zu durchschreiten gilt. Die Ablösephase, die Zwischen- oder Umwandlungsphase und die Wiederangliederungsphase.

Es braucht Zeit und Raum sich von dem Alten und Vertrauten zu lösen, Abschied zu nehmen. Die Gefühlspalette ist groß. In der Ablösephase weiß ich noch nicht, wo das Neue hinführt. Das kann Angst machen, vielleicht muss Trauerarbeit geleistet werden, es gibt Wut oder auch Sehnsucht nach dem Alten, Erleichterung, dass das Neue endlich in Sicht ist, überschäumende Freude und Hoffnung, dass alles besser wird.

Die Zwischen- oder Umwandlungsphase beschreibt den Zustand dazwischen. Ich bin schon aufgebrochen, aber noch nicht angekommen. Nicht mehr im Alten, aber auch noch nicht im Neuen. Hier bin ich, laut van Gennep, im Wandel. Was im Alten funktioniert hat, ist im Neuen so nicht mehr passend. Ich muss mich verändern und der Übergang selbst formt mich auch. Diese Phase kann mich besonders beunruhigen, meine Identität ist bedroht. Lieber möchte ich zurück zum sicheren Ursprung. Wenn der Übergang gelingen soll, ist das einer der wichtigsten Momente. Dieser muss durchgestanden, verkraftet werden. Zuversicht, Mut, Neugier und erwachsenes Verhalten, kann hier hilfreich sein.

Schließlich gilt es, sich neu zu verorten, sich einzufinden, mit der neuen Identität leben zu lernen. Jetzt wird die Veränderung klar ersichtlich und spürbar. Dieses Ankommen im Neuen braucht wieder Zeit, Kraft und Selbstvertrauen.

In welcher Phase befinden Sie sich, wenn Sie an die Wendezeit denken? Oder waren Sie nie in dieser Situation, weil Sie viel jünger sind oder woanders gelebt haben? Sicher wird jeder Mensch in unserem Land, je nach individuellem Lebensweg, diese Zeit des Übergangs anders wahrgenommen haben und dementsprechend unterschiedlich beschreiben.

Nach 34 Jahren habe ich die Wiederangliederungsphase fast abgeschlossen. Ich bin in der „neuen Welt“ angekommen und gestalte diese so gut wie möglich nach meinen Vorstellungen.

Erfahrung

Einmal kam eine Frau, Ende 30, engagiert, fleißig und offen in mein Coaching. Sie war Koordinatorin für alle Horte ihres Trägers. Davor bekleidete sie das Amt der stellvertretenden Hortleitung. Da der Träger ihre Persönlichkeit und Fachexpertise schätzte, wurde sie ausgewählt und zur Koordinatorin ernannt. Nun kam sie ins Coaching, saß da wie ein Häufchen Elend, war hilflos, beschämt und sprach von aufkommenden gesundheitlichen Problemen. Sie schaffte die Anforderungen nicht, konnte die hohen Erwartungen nicht erfüllen. Und dass, obwohl sie selbst an den Wochenenden arbeitete. Wie konnte ihr das nur passieren? Sie war doch immer sehr gut gewesen. Hatte sie den Übergang nicht ernst genug genommen oder war nicht gründlich genug gewesen?

Ich schlug ihr vor auf ihre berufliche Biografie zu schauen. Sie visualisierte ihren Weg in der Vergangenheit, Gegenwart und in der Zukunft. Ziele, Ressourcen, Werte, Glaubensätze und Kompetenzen wurden erforscht und reflektiert. Ihre individuelle Art und Weise das eigene (Arbeits)Leben und ihre Übergänge zu beschreiben, half ihr Begebenheiten und Situationen zu verstehen und diese in Beziehung zu anderen zu setzen.

Sie konnte verschiedene Resultate ableiten. Sie hatte den Kontakt zu ihrem Körper verloren, fühlte ihre Grenzen und Bedürfnisse nicht mehr. Die Rahmenbedingungen und ihr Arbeitsanteil von nur 25 Stunden, waren für ihre Stelle absolut unpassend. Es gab keine Stellenbeschreibung und ihre Rolle war unklar formuliert. Daneben gab es einen hohen Erwartungsdruck. Sie war als Feuerlöscherin unterwegs. Die eigentlichen Aufgaben konnte sie nicht bewältigen und das entstandene Vakuum nicht auffangen.

Am wichtigsten in dieser Biographiearbeit war für sie die Auseinandersetzung mit ihrer Sehnsucht. Wo schlug ihr Herz? Was liebte sie an ihrer Arbeit?

Hier wurde schnell klar, dass sie nicht an dieser Stelle bleiben konnte. Ihre Sehnsucht galt der pädagogischen Arbeit. Tapfer bereitete sie sich auf entsprechende Gespräche vor ließ sich auf einen neuen Übergang ein.

„Das französische Wort für ‹Mut›, ‹Courage› ist etymologisch mit ‹Coeur›, deutsch ‹Herz›, verwandt. Mutig sein heißt also, mit dem Herzen dabei sein, beherzt das Leben wagen. Das Leben wagen bedeutet eben auch, sich die Übergänge zuzumuten.“ Liechti-Genge, Franz (2016): Übergänge – wahrnehmen, gestalten, leben.

Ihr nächster Übergang war etwas ungewöhnlich. Sie stieg die Hierarchieleiter wieder herunter und übernahm die Leitung eines Hortes. Genau dieser Übergang bedeutete Glück und Zufriedenheit für die junge Frau. Dort konnte sie ihre Visionen direkt verwirklichen.

Sie kam während des gesamten Übergangs weiterhin ins Coaching. Am wichtigsten für Sie waren die Reflexion ihrer Rolle, ihrer Kommunikation, ihres Zeitmanagements, ihrer Versagensängste, des Erwartungsdruck und der Arbeitsbelastung. So konnte sie die Übergangsphasen erfolgreich bewältigen.

Sie stehen auch vor einem Übergang oder einer Veränderung und brauchen Unterstützung?

Experiment

Wenn es um wichtige Stationen im eigenen Leben, Ereignisse und Veränderungen geht, können Sie folgendes ausprobieren. Zuerst formulieren Sie so konkret wie möglich Ihre berufliche oder private Fragestellung. Legen Sie eine Leine als Zeitskala aus. Sie können auch eine Linie aufmalen. Betrachtet werden Ziele und Werte, jeweils unter dem Zeitfaktor der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft.

Ziele markieren
Markieren Sie Ihre wichtigsten Stationen zu Ihrem Thema mit Zetteln oder Gegenständen. Diese können Sie jederzeit verschieben oder verändern. Betrachten Sie:

  • das private Umfeld (z.B. Kinder, Trennung, Todesfälle)
  • Studium, Ausbildung und Arbeit
  • äußere (z.B. Umzug) und innere Umstände (z.B. mit dem Rauchen aufhören)
  • einschneidende soziale oder gesellschaftliche Erfahrungen (z.B. Fall der Mauer, Krieg, Mobbing)
  • Welcher Lebenstraum stand/steht im Mittelpunkt?
  • und was außerdem für Sie wichtig und bedeutsam ist.

Schauen Sie auf die Vergangenheit: Welche Ziele habe ich schon erreicht? Die Gegenwart: Was ist gerade wichtig? Die Zukunft: Welche Ziele möchte ich noch erreichen? Wohin treibt mich meine Sehnsucht? Was wollte ich schon immer gern machen?

Werte identifizieren
Welche Werte waren/werden in unterschiedlichen Lebensabschnitten bedeutsam? Folgende Fragen können Ihnen helfen, Ihren Werten auf die Spur zu kommen.

  • Was ist/war mir zu dieser Zeit wichtig?
  • Womit verbringe ich die meiste Zeit?
  • Welche Personen sind wichtig? Gab es wichtige Vorbilder?
  • Mit welchen Personen verbringe ich viel Zeit und warum?
  • Welche meiner Hobbies, Aufgaben, Ämter nehmen viel Zeit ein?
  • Worauf achte ich bei der Gestaltung meines Lebens zu dieser Zeit?

Dann schauen Sie wieder auf die Vergangenheit: Welche Werte waren wegweisend? Die Gegenwart: Welche Werte sind zurzeit wesentlich? Die Zukunft: Welche Werte werden sich entwickeln? Was könnte mir wichtig werden? Worum will ich mich zukünftig kümmern? Wo schlägt mein Herz?

Abschluss
Am Ende schauen Sie, was war und was ist. Nehmen Sie Ihren Zeitstrahl positiv wahr. Bahnt sich ein Übergang an? Wohin könnte er führen? Was könnten Sie brauchen, um den Übergang gut zu meistern? Wenn Sie es wünschen, laden Sie eine nahe Person „als Gast“ ein, auf den Zeitstrahl zu schauen. Wichtige Regel: es darf nicht interpretiert oder bewertet werden. Es geht um die Wahrnehmung des anderen: „Was fällt dir auf?“ und „Welche Bilder, Gedanken und Gefühle werden in dir aktiviert?“

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