Alles Zufall?!
Eine wahre Geschichte
Und neulich…
Grübelte ich. All das konnte doch kein Zufall sein.
Ich dachte darüber nach, ob es so etwas wie Schicksal gab? Aber dann wäre alles vorbestimmt und den Menschen die Entscheidungsfreiheit entzogen. Das wollte ich nicht glauben. Mein Vater hatte damals als Gast in unserer Jugendstunde über Zufälle gesprochen. Er zog Aristoteles hinzu, der wohl sagte, dass zur Wahrscheinlichkeit auch gehört, dass das Unwahrscheinliche eintritt.
Also alles nur eine Verkettung von Zufällen?
Draußen
Vor gar nicht so langer Zeit hatte ich mich frisch verliebt.
Bei der Flucht aus der großen, viel zu lauten Stadt, trieb es mich und meinen Mann in die kleine Stadt. Hier lebte meine Tochter und es gab unglaublich viel Wasser.
Unterwegs mit den Fahrrädern, sahen wir einen See. Wie ein langer Wurm wand er sich kilometerweit durch die Landschaft. Wir hielten uns nah am Ufer und kamen durch einen kleinen Ort.
Mein Mann stutze. Irgendwoher kannte er diesen Ortsnamen, hatte aber zunächst keine Idee dazu. Wir musterten das Dorf. Kurz vor dem Dorfausgang lag ein flaches Gebäude Er sagte: „Hier war ich schon. Ein Familientreffen in den frühen 80er Jahren.“ Früher lebte mein Mann noch in der anderen Hälfte der großen Stadt und brauchte für diesen Besuch ein Tagesvisum. Ein entfernter Großonkel war damals, wie auch heute noch, Bürgermeister in diesem kleinen Dorf und hatte das Fest organisiert.
Die Geschichte wurde immer zauberhafter. Am Ende, dort wo das Nirgendwo anfängt, fanden wir einen verwahrlosten Garten samt schäbiger Sommerlaube. Sofort war es um mich geschehen. Liebe auf den ersten Blick.
Euphorisch, wie im Dauerrausch, begannen wir dieses Fleckchen zu einem wild romantischen Cottage Garten zu verwandeln. Die Begeisterung und unser Tempo waren hoch.
Trompetenartige Rufe der tanzenden Kraniche kündigten den Morgen an, mittags kreiste der Milan mit scharfem Auge. Am Nachmittag hingen erdig würzige Düfte schwer in der warmen Luft. Die Schafe auf der Wiese begrüßten die Nachbarn, wenn sie nach Hause kamen. Es war so friedlich.
Meine vor Anstrengung zitternden Knie, den brennenden Schmerz im Rücken, zerschrammte Arme, den klebrigen Lehmboden an den Händen, der abblätternde dunkelrote Lack von meinen Nägeln … All das war ein großes Glück.
Durstig saugte ich nötiges Wissen und wertvolle Inspirationen auf wie ein trockener Schwamm. In einem Onlinekurs kamen gartenverrückte Frauen zusammen und es entstand eine wunderbare Gemeinschaft. Wie kleine Samen waren wir Gärtnerinnen über die gesamte DACH Region verstreut. Wir trafen uns fast wöchentlich online, um über unsere Gärten nachzudenken, zu fabulieren und die perfekte Nachlässigkeit im Garten zu planen. Wir wussten: „Wahre Schönheit kommt von unten“*. Diese Liebe war für mich eine wichtige Quelle.
Sobald ich dort sein konnte, begann es zu sprudeln. Dabei wuchsen nicht nur Pflanzen und Früchte, auch neue berufliche Projekte wurden geboren. Begeisterungsfähigkeit hält jung und ich war reich.
Nun pendelte ich so oft es ging zwischen der großen Stadt, der kleinen Stadt und dem winzigen Dorf hin und her.
In meiner bezahlten Selbstverwirklichung begleitete und beriet ich Menschen. Ich hörte ihnen zu und fragte nach, sortierte und klärte, löste und stabilisierte. Sie wuchsen und blühten auf.
Auch in mir wuchs durch den dauernden Ortswechsel etwas.
Der Wunsch flexibler zu arbeiten. Dementsprechend tauchte ich noch intensiver ins Internet ein. Fand Interessengemeinschaften, lernte Menschen, jeden Tag neue Begriffe, Techniken und attraktive Möglichkeiten kennen.
*Zitat Sarah Stiller
Anna
Anna konzentrierte sich schon einige Zeit auf den Wohnungsgrundriss in ihrem PC. Sie rechnete unterschiedlichste Faktoren hin und her. Ziel war ein perfekter Energiefluss, Balance und Harmonie.
Es war ein warmer Tag im Taunus. Anna trank einen Schluck Wasser und dachte an früher.
Seit ein paar Monaten waren sie zurück aus Singapur. Ihr Mann war dort einer Anstellung nachgegangen und so verbrachten sie mehrere Jahre mit ihren Söhnen in der Ferne.
Natürlich gab es eine deutsche Community. Tagsüber trafen sich die begleitenden Ehefrauen, um soziale Kontakte zu pflegen. Interessanterweise gab es auch einen Mann in dieser Runde, der seine Frau begleitete. Seine kleine Familie kam aus einer großen Stadt in Deutschland. Er hieß Tom, war ein cooler Typ, Pianist und unterrichtete über die Zeit viele der mitgereisten Kinder.
In den Abendstunden studierte Anna 4 lange Jahre an der Universität bei mehreren Großmeistern chinesische Metaphysik. Sie durfte Feng Shui Meister begleiten und sich als Beraterin üben.
Nun wieder in der Heimat sah sich Anna mit eher esoterischen Vorstellungen von Feng Shui konfrontiert. Ob sie ihr Thema virtuell in sozialen Netzwerken oder im direkten Kontakt anbrachte, „solch ein Hokuspokus“ wurde nicht ernst genommen. Natürlich hatte diese Sichtweise nichts mit dem zu tun, was sie studiert hatte. Es ging nicht um „schöner Wohnen“, sondern um glücklicher leben. Es war so mühsam mit den Vorurteilen aufzuräumen und die Auftragslage war spärlich.
Sie wollte noch nicht aufgeben, suchte im Internet nach Impulsen und Netzwerken.
Suse
Im alten Hafen gab ein riesiges Schiff lautstark Signal. Der Ton kroch bis in Suses Bauch. Sie wartete auf der La Rambla am Gemüsestand. Die lange belebte Promenade im Zentrum von Barcelona war ihr heutiges Ausflugsziel.
Der letzte Abend des Retreats stand bevor und sie begleitete die junge Köchin Leni beim Einkauf. Leni kam aus einer kleinen Stadt in Deutschland. Sie kochte nur vegetarisch, besonders kreativ und liebevoll. Aufmerksam suchte sie die besten Früchte heraus, wobei ihre großen blauen Augen flink die Ware scannten.
Die beiden Frauen bewohnten gemeinsam ein Zimmer und obwohl sie sich vor der Reise nicht kannten, waren sie ein Herz und eine Seele.
Suse unterrichtete an einer Universität in Baden-Württemberg. Vor einigen Monaten hatte sie begonnen, ihre Selbständigkeit als Dozentin für Deutsch als Fremdsprache aufzubauen. Dazu nutzte sie unterschiedlichste Kanäle im Internet und war dort auf das Retreat gestoßen.
Ihre Mastermind Kolleginnen hatten sie ermutigt dorthin zu reisen. So genoss sie den zauberhaften Rückzugsort mit gleichgesinnten Frauen. Die perfekte Zeit zum Sortieren. Die nächsten logischen Schritte wollte Suse zuhause in die Tat umsetzen.
Treffen
Anna und Suse standen wie ich am Anfang unserer Onlinearbeit. Zwar hatten wir unterschiedliche Motivationen, aber wir wollten es anpacken. Bei einer entsprechenden Online Fortbildung lernten wir uns kennen und bildeten eine Mastermind Gruppe. Der Austausch war fruchtbar. Großzügig tauschten wir unser Wissen, dachten gemeinsam nach und halfen uns bei jedem noch so winzigen Problem. Ein Schatz!
Direkt getroffen hatten wir uns noch nie. Einige Dimensionen unserer Wahrnehmung blieben unzugänglich, eben zweidimensional. Doch war, trotz Distanz, über die Zeit ein Gefühl von Nähe entstanden. Ich fand das irgendwie seltsam, aber vor allem bemerkenswert.
An diesem Tag sah Suse so gut aus. Unglaublich entspannt und braungebrannt, bedankte sie sich für unsere „Mutspritze“. Barcelona war offensichtlich eine gute Investition. Auch wir profitierten nun von ihren Erzählungen und den mitgebrachten Plänen.
Anna erzählte, dass sie zum Ferienende in die große Stadt käme. Ihr Sohn wollte für einige Tage einen Freund besuchen, mit dem er seit Singapur Kontakt hielt. „Das wäre doch ein schöner Anlass, sich mal direkt mit dir zu treffen. Zwar wohnen die Leute bestimmt weit entfernt von euch, was ja logisch wäre bei dieser großen Stadt, aber wer weiß.“ Sie nannte den Ort und merkwürdigerweise wohnte der Freund fast bei mir um die Ecke.
Jedenfalls fand ich die Idee wunderbar.
Als wir uns trafen, war ich aufgeregt, wie bei einem ersten Date. Anna war groß. Das hatte ich nicht erwartet. Ihre Art berührte mich. Und dann war es ganz schnell sehr vertraut, wie mit einer alten Schulfreundin. Wir redeten und die Zeit verflog. Diese Begegnung machte die weitere, lang andauernde Zusammenarbeit noch leichter.
Verbindungen
Zwei Jahre später schlenderte ich durch die Altstadt der kleinen Stadt. In einem Turm der Stadtmauer lud ein winziges Café zum Verweilen ein. Es trug den Namen „Wenn ich mal groß bin“. So zierlich es auch war, so charmant war die Gestaltung. Die Speisen waren vegetarisch, die Getränke erlesen. Hier sollte man seinem „Körper leicht Gutes tun“. Jedenfalls hatte sich die fröhliche Wirtin dieses Motto auf die Agenda geschrieben. Sie glänzte durch ihr Wesen, scherzte und hieß alle Gäste persönlich willkommen.
Ich fühlte mich leicht, wie damals in Italien, wo ich häufiger in solch kleinen Ecklokalen war, Menschen beobachtete und die Seele baumeln ließ.
Neugierig durchstöberte ich das Internet nach dem „Wenn ich mal groß bin“. In den sozialen Netzwerken wurde ich fündig und studierte die Webseite des Cafés. Während ihrer Zeit als Privatköchin sammelte die Wirtin Inspirationen an vielen Orten der Welt. Sie wollte nun „mit Hingabe die Welt schöner, gesünder und bunter machen“.
Beim Scrollen durch die Galerie stieß ich auf ein Foto. Ich stutzte. Das war doch… war das möglich? Hektisch suchte ich die Telefonnummer von Suse. Sie ging nicht ran. „Bitte ruf mich zurück!“
Erst am nächsten Tag rief Suse an. Ich erzählte ihr von meinem Netzfund und sie war freudig überrascht. „Ich war doch vor zwei Jahren im Sommer bei dem Retreat in Barcelona. Weißt du noch? Dort lernte ich Leni kennen. Wir teilten uns sogar ein Zimmer. Ach, wie klein doch die Welt ist. Grüß Leni bitte beim nächsten Mal herzlich von mir!“
Als ich mich der Wirtin Leni bei meinem nächsten Cafébesuch vorstellte und die Geschichte erzählte, schüttelte sie immer wieder lächelnd den Kopf. Die Freude wurde gleich auf einem Foto festgehalten und an Suse gesendet.
Ob das ein Zufall war?
Das sollte aber noch lange nicht alles gewesen sein.
Beim Surfen nach dem Café fand ich auch einen alten Bekannten wieder. Zu Beginn meiner Gesangskarriere war er ein wichtiger Begleiter, von dem ich lernen durfte. Nächte voller Wein, Rauch, Philosophieren, Musizieren. Gemeinsam bespielten wir kleine und größere Bühnen. Wir hatten Jazz im Blut.
Natürlich bekam er gleich mein „gefällt mir“ an seine wunderbaren Fotos.
Etwas später setzte Anna genau an diesem Post ihren Like.
Ich verstand die Welt nicht mehr.
Anna rief mich an. „Kennst du ihn, Aline?“
„Natürlich!“ erwiderte ich. „Er lebt in meiner Stadt, ganz nah. Aber woher hast du denn den Kontakt?“
„Tom habe ich doch in Singapur kennengelernt und er hat meinem Sohn Klavierspielen beigebracht. Mein Sohn ist mit seinem Sohn eng befreundet und sie besuchen sich öfter. Kannst du dich erinnern?“
„Na sowas, das gibt es doch nicht!“ Ich war verblüfft. „Ich habe vor vielen Jahren mit Tom musiziert. Er hat mich lange auf dem Klavier begleitet. Doch dann hat er eine Frau kennengelernt und hat sie nach Asien begleitet.“
„Ja, nach Singapur.“ lachte Anna.
So schloss sich wieder ein Kreis.
Unsere Wahrnehmung von Ereignissen wird manchmal als zufällig beschrieben.
Dass es bei uns diese Verbindungen gibt, über solche Entfernungen und Zeitspannen, ist Zufall. Oder ist es wahrscheinlich und wirkt nur unwahrscheinlich?
All das, weil jede von uns Dreien zur selben Zeit dachte: „Ich muss jetzt etwas unternehmen.“
Autorin: Aline Kramer-Pleßke