Rausgucken
Man darf sarkastisch feststellen, dass der Mensch inzwischen die Distanz bis zum Mond überwunden hat, aber immer noch daran scheitert, zu seinen Mitmenschen zu gelangen.
(aus „Der schwierige Mitmensch“ von Josef Rattner)
Eine Erinnerung Früher arbeitete ich in einer Schule in Berlin-Neukölln. Dort leitete ich die Schulsozialarbeit und hatte mit Menschen aus sehr vielen verschiedenen Nationen zu tun. Auf einer Konferenz erzählte eine Mutter ihre Geschichte: Weil Krieg in ihrem Heimatland war, musste sie mit ihrer Familie fliehen. Auf der Flucht kam ihr Mann ums Leben und sie schlug sich mit den drei Kindern allein durch. In Deutschland angekommen, wurde ihr gesagt, die Kinder müssen regelmäßig in die Schule gehen. Sie brachte also regelmäßig ihre Kinder in die Schule. Regelmäßig jeden Dienstag und Donnerstag. Sie wartete an diesen Tagen ängstlich vor dem großen Gebäude, weil sie nicht genau wusste, was mit ihren Kindern dort geschah. Zwischendurch bekam sie häufig Ärger, weil sie die Kinder wohl unregelmäßig in die Schule brachte. Sie verstand ihren Fehler nicht und verteidigte sich lautstark. Dienstag und Donnerstag – das war doch ein Rhythmus, oder? Die Mutter war sehr fleißig, lernte ziemlich schnell deutsch und irgendwann fand sie Menschen, die ihr genauer erklären konnten, worum es ging. Was für ein Missverständnis! Wahrscheinlich hätte ein Gespräch, das von echtem Interesse für die Familie geprägt gewesen wäre, einiges an Aufklärung gebracht.
Was mich beeindruckte war die bildhafte Sprache der Mutter. Wiederholt sagte sie: „Aus meinem Fenster rausgeguckt…“, … war das so und so. Auf diese Weise beschrieb sie ihre Erfahrung aus ihrer Perspektive. Der eigene Blick ist oft eingeschränkt und durch die individuelle Geschichte geprägt. Kultur hat einen maßgeblichen Einfluss darauf, wie wir uns in einer Situation verhalten und diese wahrnehmen. Wenn Menschen in Kontakt miteinander gehen, können Welten aufeinander prallen. Viele verschiedenen Faktoren können hier maßgeblich sein.
Eine Erfahrung Vor einigen Jahren kam ein Kita Team zu mir in die Supervision. Es war ein bunt zusammengewürfeltes Team, in dem die Leitung erst seit einem Monat tätig war.
Bei der Bestandsaufnahme beschrieb das Team, dass die Zusammenarbeit ganz gut liefe, sie sich mögen und respektieren. Als Problem stellte sich heraus, dass es seit Ewigkeiten irgendwie nicht vorwärts ginge. Ich verspürte im Team Unsicherheit und benannte dieses Gefühl. Zunächst wurden Schleifen gedreht und Situationen eher oberflächlich angesprochen. Die Leitung beklagte, das Team käme nicht aus dem Knick. Sie habe keine Planungssicherheit, war deutlich abgenervt und meinte, dass sie so nicht arbeiten könne. Die Spanierin beschwerte sich über den generellen Umgang mit der Zeit. Sie wolle improvisieren und nicht alles planen, spontan agieren hieß ihr Credo. Der Kollege aus Marokko redete um die Dinge herum, war äußerst höflich und freundlich dabei. Das Wichtigste sprach er erst am Schluss der Sitzung an, so dass keine Zeit blieb, wirklich etwas zu klären. Die russische Kollegin fühlte sich durch die Aussage der Leiterin angegriffen: sie mache immer einen Plan für ihre Arbeit. Die beiden noch sehr jungen deutschen Mitarbeiter*innen waren eingeschüchtert und zunächst eher still. Sie zogen sich in die Komfortzone „wir lernen ja noch und versuchen dabei zu sein“ zurück. Sie hatten noch keine rechte Idee, wo sie ihren Platz finden sollten.
Zu Beginn der nächsten Sitzung machte ich mit dem Team das spielerische Experiment „Mann und Maus“ aus der Wahrnehmungspsychologie.
Sind auch neugierig auf verschiedene Sichtweisen?
Wollen Sie Ihre besser kennen lernen, wünschen sich einen Blick von außen und eine professionelle Unterstützung?
Ein Experiment
Bei diesem Experiment sitzen die Teilnehmer*innen (TN) in zwei Gruppen Rücken an Rücken. Es ist noch nicht bekannt, dass sie später in Paaren arbeiten werden. Nun bekommt jeder TN ein Bild und muss es sich eine Minute lang einprägen. Natürlich schaut jede Gruppe ein anderes Bild an. Das wissen sie aber auch noch nicht. Gruppe A sieht einen Mann, Gruppe B sieht eine Maus. Nach der Minute werden die Stühle umgedreht und die TN sitzen in Paaren gegenüber. Papier und Stift liegen bereit. Allen TN wird nun das Bild C gezeigt, das weder eindeutig als Maus noch Mann zu identifizieren ist. Dieses Bild sollen Sie jetzt malen. Gemeinsam zu zweit mit nur einem Stift malen, was sie sich eingeprägt haben. Sie dürfen dabei nicht sprechen. Es gibt ein Durcheinander, kleinere Machtkämpfe am Stift, da jeder „sein“ Bild für richtig hält und es aufmalen möchte. Am Ende wird aufgelöst und Erfahrungen besprochen. Wer konnte sich durchsetzen? Was bedeutet das?
Bedeutungen, Bewertungen, Bräuche und Regeln werden kulturell vererbt und bilden Verhaltenssysteme die innerhalb einer Gruppe gültig sind. Häufig wird diese oft unbewusste Übereinkunft, als richtig und natürlich empfunden. „ … Kulturelle Gepflogenheiten sind werteverankerte Herzensangelegenheiten, tief eingeprägt und begründen eine stolze Identität. …“ (S.11 Interkulturelle Kommunikation D. Kumbier, F. Schulz von Thun (Hg.)
Das Experiment zeigte sehr deutlich, dass wir mit Bildern im Kopf agieren. Haben wir z.B. ein Leben lang das Bild „Mann“ im Kopf, fällt es uns schwer die „Maus“ wahrzunehmen und dann auch noch zu akzeptieren. Diese Bilder, auch Muster oder Stereotyp genannt, dienen als Vorlage für Entscheidungen und Handlungen. Stereotype helfen uns die Komplexität der Welt zu vereinfachen. Deshalb sind sie zunächst sehr nützlich. Allerdings zählen auch Überzeugungen und Meinungen über Eigenschaften sozialer Gruppen dazu. Wenn diese stereotyp gesehen werden, werden sie schnell zu Vorurteilen und Klischees. Das ist unvermeidbar und kann problematisch sein. Unterschiedliche Vorerfahrungen führen in der Zusammenarbeit zu Irritationen. Im Experiment gibt es diese Verunsicherung beim gemeinsamen Malen. Es entsteht immer Gerangel um die Definition der richtigen Interpretation der Wirklichkeit. Lieber soll sich der Nachbar anpassen oder ändern, als man selber.
Eine interessante Erkenntnis. Nun konnten wir genauer auf Ihre Sichtweisen schauen. Was sehen sie, wenn sie aus ihrem „Fenster schauen“? Im Gespräch stellte sich z.B. heraus, dass Pünktlichkeit und Zeit in Marokko eine andere Bedeutung haben als in unserer Kultur. Der Kollege erzählte, dass er es als ungebildet empfand, wenn direkt gesagt wurde, worum es geht. Flexibilität sei in Spanien ein wichtiger Wert meinte die Kollegin aus Spanien, da passt Planung so gar nicht rein, fand sie. Die Kollegin aus Russland beschrieb, dass sie es gelernt hatte "Grobpläne" zu machen. Auf Situationen wird dann direkt reagiert, also Feinheiten könne man nicht voraussehen und schon gar nicht planen. Der neuen Leiterin war es sehr wichtig, alles ganz korrekt und bis ins kleinste Detail durchzuplanen. Sie hatte es vor 30 Jahren beim Studium zur Kindergärtnerin genau so gelernt.
Zunächst war es sehr heilsam für das Team, sich über all diese Dinge auszutauschen. Es wurden viele Dinge gefunden, die grundlegend verschieden gelernt und verinnerlicht wurden. Eine bunte Landschaft von Perspektiven und Sichtweisen. Auch warum das Team in ihrer Arbeit so stagnierte wurde deutlich. Einerseits gab es die unterschiedlichen Einstellungen und Herangehensweisen an die Arbeit, andererseits hatte sich eine gewisse Unsicherheit breit gemacht und lähmte jegliche Aktivität. Im weiteren Verlauf des Supervisionsprozesses wurde darüber nachgedacht, was, warum wichtig für jeden einzelnen ist und was wie umsetzbar sein könnte.
Noch eine sehr wichtige Erkenntnis war, dass ihre Verschiedenheit nicht nur auf die Kultur zurückzuführen ist, sondern in jeder einzelnen Persönlichkeit steckt. Wenn nur die Kultur berücksichtigt werden würde, könnte es schon wieder ein Vorurteil sein. Jeder bringt mit seinem Charakter eine besondere Farbe ein. Was für ein Glück! Und wenn sie gemeinsam aus ihren Fenstern rausgucken, können sie sich die wildesten und buntesten Erfahrungen austauschen und so ihre Arbeit bereichern.
Kommt Ihnen das bekannt vor? Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht? Was sehen Sie, wenn Sie aus Ihrem Fenster rausgucken? Hinterlassen Sie mir doch am Ende dieser Seite einen Kommentar!
Natürlich bin ich gespannt, was Sie berichten. Herzlichen Dank und viel Freude beim Gedankenkramen!
Ihre Aline Kramer
Vielen Dank für diese hilfreiche Kramerei.
Ich neige auch dazu, in Debatten fast nur aus meinem Fenster zu schauen. Dabei geht manchmal die Achtsamkeit für die Hintergründe meines Gesprächspartners verloren. Schnell bleibt dann das Gespräch „hängen“.
Dann mal durchatmen und nicht nur die Ohren für den Anderen öffnen. Übrigens, nicht nur im Arbeitsbereich, auch in der Familie gibt es ja Generationen übergreifende Auseinandersetzungen.
Genau diese Sicht, dieses Rausgucken auf viele Lebensbereiche zu übertragen – das macht es interessant. Ich finde ja auch, dass ich durch diese Perspektivwechsel, wirklich viel über mich lerne. Vielen Dank für den Kommentar und die Öffnung eines weiteren Fensters ?