Gedanken kramen

Gedanken der Frau Rosa
Schlechtes Gewissen

Und neulich…
hatte Frau Rosa ein schlechtes Gewissen.

Auf Ihrer Arbeit waren über längere Zeit Konflikte spürbar. Unterschwellig. Das Thema war nur schwer greifbar. In allen möglichen Situationen wurde rumgezankt, viele Kolleginnen waren genervt und mächtig angestrengt.
Frau Rosa war sehr feinsinnig und empfing ständig irgendwelche unangenehmen Schwingungen. Wenn etwas unklar und nicht greifbar war, verkroch sie sich gern hinter ihrem Schreibtisch und versuchte stupide ihre Aufgaben abzuarbeiten. Doch sie konnte sich nicht konzentrieren, starrte aus dem Fenster.

Und da saß er. Ein fetter, schwerer, missmutig dreinschauender Gedanke. Er betrachtete sie herabwürdigend und schrie auf einmal hysterisch: „Das wird Konsequenzen haben.“

Ein kurzes Déjà-vu! Frau Rosa erinnerte sich an eine Szene, als sie in der 4. Klasse war. „Das wird Konsequenzen haben!“ schrie damals ihre Klassenlehrerin und knallte die Tür zu. Die ganze Klasse saß erstarrt, einige Kinder kicherten. Sie schluckte, hatte einen trocknen Hals und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wusste nicht, was diese Aussage bedeutete. Am Vortag saßen die Schüler in der letzten Unterrichtsstunde allein im Klassenraum. Die Lehrerin erschien nicht zum Unterricht. Im Sekretariat bekamen die Kinder keine hilfreiche Auskunft. Niemand aus der Klasse wusste, was in einem solchen Fall zu tun war. Das Vorgehen, also die Regeln, waren unklar. Die meisten Kinder waren unsicher. Ein paar Jungen kamen auf die Idee, dass jetzt wohl Schulschluss sei und meinten, dass sie ja gehen könnten. Fast alle Kinder folgten dieser Idee. Frau Rosa ebenso, wenn auch mit einem flauen Gefühl im Magen.

Bis dato wusste sie nicht, was eine Konsequenz war. Sie fragte ihren älteren Bruder und erzählte die Situation. Der meinte nur: „Das gibt eine Strafe.“ Er behielt Recht, sie bekamen einen Klassentadel. Also waren Konsequenzen Strafen die man bekam, wenn man Regeln verletzt hatte.

Ihre Chefin schaute zur Tür rein und lud zur Teamsitzung am nächsten Morgen. Thema: Regelverstöße.

An diesem Tag ging Frau Rosa noch erschöpfter nach Hause. Der fette Gedanke ließ sie einfach nicht los. Er war in ihre Handtasche hinter das Innenfutter gekrochen und verbreitete schlechte Stimmung. Sie hatte Angst vor der Teamsitzung und dachte angestrengt über ihre Regelverstöße nach. Ja, sie hielt sich nicht an alle Regeln, fand sie teilweise sinnlos, gar nicht logisch. Aber jeder machte irgendwie, was er wollte.

Am nächsten Morgen hatte Frau Rosa extra einen Rucksack gewählt, wollte den fetten Gedanken nicht mitnehmen. Der war aber einfach umgezogen in den Rucksack. Kein Problem für einen Gedanken. Sie konnte kaum aufrecht gehen, so tonnenschwer war der griesgrämige Gedanke im Rucksack. Sie schleppte an ihrem schlechten Gewissen.

Alle waren schon versammelt und schauten misstrauisch in der Gegend herum. Die Chefin erzählte, dass sie Unstimmigkeiten und Umgehungen von Regeln beobachte. Dies konnte sie nicht gut heißen. Sie schlug dem Team vor, über ihre Werte nachzudenken, Erwartungen und Wünsche abzugleichen. Sie diskutierten mehrere Fragen: Wie arbeiten sie miteinander? Was empfinden sie in der Arbeit als hilfreich und was als hinderlich? Hier wurde ganz schnell deutlich, dass es ein Problem mit den bestehenden Regeln gab. Sie forschten also weiter: Welche Regeln gab es ganz konkret? Wer hatte die Regeln aufgestellt? Waren sie allen klar und nachvollziehbar? Wurden sie für sinnvoll erachtet? Wer musste sich an diese Regeln halten? Welche Konsequenzen hatten Regelverstöße?

Frau Rosa war besonders erstaunt, dass die meisten von ihnen noch gar nicht im Team waren, als diese Regeln formuliert wurden. Darüber hatte sie noch nie nachgedacht.
Sie einigten sich, dass Regeln gut und notwendig sind, um erfolgreich zu arbeiten, aber auch, um sich sicher zu fühlen und glaubhaft zu sein. Wie konsequent sie diese durchsetzen würden, hätte natürlich viel mit der persönlichen Interpretation zu tun. „Wir sind alle sehr unterschiedlich und haben dadurch auch verschiedene Arbeitsweisen und Ideale.“ sagte die Chefin.

Ja, das spürte Frau Rosa jeden Tag. Diesen Fakt auszusprechen, war schon eine große Entlastung. Sie überprüften die Regeln und erarbeiteten einige neu. Am Ende der Sitzung, bat die Chefin um eine gewisse Flexibilität und auch Toleranz. Sie wollten versuchen, respektvoll und offen mit den verschiedenen Meinungen umzugehen, sich zuzuhören und die daraus resultierenden Konsequenzen abzugleichen. Und das ganz konsequent. Sicher würde das nicht leicht werden, aber sie hatten alle Lust darauf. Das Team war erleichtert und ging fröhlich in die Mittagspause.

Das schlechte Gewissen war verschwunden, der Rucksack federleicht und Frau Rosa zuversichtlich. …

Autorin: Aline Kramer

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