Gedanken kramen

Gedanken der Frau Rosa
Fremdgehen

Und neulich…
ging Frau Rosa fremd. Das wurde ihr zumindest indirekt vorgeworfen.

Lange schon ging ihr die Luft aus, sie fühlte sich schlaff wie ein leerer Luftballon und musste handeln. Also hatte sie beschlossen nicht mehr mit vollem Stundenanteil in ihrer Firma zu arbeiten. Sie wollte sich selbst ernster nehmen und Dinge tun, die ihr auch Kraft gaben.

Als Frau Rosa ihre Entscheidung formuliert hatte, empört sich ihre Zimmerkollegin, lies wütende Kommentare ab. Dann trat befangenes Schweigen ein. Die nächsten Tage gingen wortlos dahin, eisiges Schweigen.

Dabei war das doch wirklich kein leichter Entschluss. Frau Rosa hatte ihre Familie, Geschwister und ihre Eltern. Die wurden auch älter und waren fürchterlich bedürftig. Diese ständigen Anrufe waren sehr anstrengend. Das ganze Umfeld wollte gewuppt werden. Ihre Freunde kamen viel zu kurz, von Hobbies ganz zu schweigen. Sie hatte kaum Luft zum Atmen, war im Grunde nie allein. Die Balance zwischen Geben und Nehmen, zwischen Arbeit und freier Zeit war in extremer Schieflage und sie selbst rutschte immer tiefer.

Dazu kam, dass Frau Rosa eine Art innere Uhr hatte. Früher hatte sie keinen Zugang zu diesem tiefen Mechanismus. Aber neuerdings schellte diese Uhr öfter mal Alarm. Es war ein Instinkt, die Gendarmerie ihrer selbst.

Ganz wichtig dabei war ihre Lust, die übel launig wurde, wenn sie immer nur am Schreibtisch saß. Wenn die Lust wegblieb, wurde sie krank, das hatte sie für sich gelernt.

Sie musste sich dringend Freiräume schaffen.

Nun also war sie in einen klassischen Loyalitätskonflikt. In der Firma galt nämlich ein anderes Wertesystem. Hier wurde geackert bis zum Umfallen. Mitgegangen, mitgefangen. Das machte es besonders schwer.

Für Ihre Zimmerkollegin war die Sache klar, sie war unehrlich, wollte sich „scheiden“ lassen, wollte „fremdgehen“ und war damit schuldig gesprochen.

Ein mächtiger Vorwurf!

Frau Rosa hatte verinnerlicht, dass Ehrlichkeit das höchste Gut sei. Allerdings hatte sie im Laufe ihres Lebens auch äußerst unangenehme Erfahrungen gemacht, wenn sie ehrlich war. So entschied sich also manchmal dafür, lieber gar nichts zu sagen oder sogar eine kleine Notlüge anzubringen. Das brachte ihr ausgeprägtes Bedürfnis nach Harmonie und ihre Angst vor Konflikten einfach mit sich. Das war wohlgemerkt manchmal!


Sie hatte jedoch auch einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und setzte sich durchaus ein. Meist für andere.

War sie in diesem Fall wirklich unehrlich gewesen?

Und dann kam der Gedanke: Ja, es stimmte! Ja, sie war illoyal, verlogen, feige, charakterlos. Im Grunde abscheulich!

Dieser Gedanke war einer ihrer massivsten Kritiker. Er war fies, unerträglich, klebte an ihr, hatte sich festgebissen, saß ihr im Nacken. Er fühlte sich an wie ein Heuschreckenschwarm, der in kürzester Zeit die Ernte zerstörte.

Gerade in letzter Zeit hatte sie sich mit eigenen Zielen und Werten auseinandergesetzt. Sie hatte so etwas wie Selbst-Bewusstsein erworben, in kontinuierlicher Kleinstarbeit. Sollte sie denn die erworbene Treue zu sich selbst in Frage stellen?

Umso interessanter war es, dass dieser besonders kritische Gedanke, sie immer noch ziemlich schnell aus der Bahn werfen konnten. Das war mühsam. Er kam als lang gelernte innere Verpflichtung, setzte sich fest und das war`s dann.

Wie sehr hingen Ehrlichkeit und Loyalität zusammen? Konnte sie denn ihrem Chef und ihren Kolleginnen gegenüber loyal sein, wenn sie nicht 100% zu dieser Arbeit stand?

Ging es hier nicht auch um Erwartungen? Wie sollte sie sich nach außen Verhalten und welche innere Haltung müsste sie einnehmen?

Vielleicht wäre es besser, darüber zu reden, wie die Entscheidung für die Stundenkürzung entstanden ist. Sie könnte es genauer erklären. Sie beobachtete ja sehr unterschiedliche Reaktionen im Kollegium: Ärger, Kummer, Missfallen, Neid, Missgunst und an einigen kleinen Stellen loderte sogar Verständnis auf. Möglicherweise gab es auch Fragen an sie. Bei nächster Gelegenheit würde sie sich wagen und das Thema ansprechen.

Und jetzt war sie eigentlich ganz froh, diesen Gedanken zugelassen zu haben.

Autorin: Aline Kramer

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